Hier ein paar grundlegende Gedanken von Erich Fromm, ein deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe

über das allumstrittene Thema der Liebe, und was das wirklich ist.


Die folgenden Abschnitte sind aus seinem Buch: Die Kunst der Liebe. 



Ist Lieben eine Kunst?


Wenn es das ist, dann wird von dem, der diese Kunst beherrschen will, verlangt, dass er etwas weiss und dass er keine Mühe scheut. Oder ist die Liebe nur eine angenehme Empfindung, die man rein zufällig erfährt, etwas, was einem sozusagen „in den Schoss fällt“, wenn man Glück hat? 


Nicht als ob man meinte, die Liebe sei nicht wichtig. Die Menschen hungern geradezu danach; sie sehen sich unzählige Filme an, die von glücklichen oder unglücklichen Liebesgeschichten handeln, sie hören sich Hunderte von kitschigen Liebeslidern an – aber kaum einer nimmt an, dass man etwas tun muss, wenn man es lernen will zu lieben. Diese merkwürdige Einstellung beruht auf verschiedenen Voraussetzungen, die einzeln oder auch gemeinsam dazu beitragen, dass sie sich am Leben halten kann. Die meisten Menschen sehen das Problem der Liebe in erster Linie als das Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können.

Daher geht es für sie nur darum, wie man es erreicht, geliebt zu werden, wie man liebenswert wird. Um zu diesem Ziel zu gelangen, schlagen sie verschiedene Wege ein. Der eine, besonders von Männern verfolgte Weg ist der, so erfolgreich, so mächtig und reich zu sein, wie es die eigene gesellschaftliche Stellung möglich macht. Ein anderer, besonders von Frauen bevorzugter Weg ist der, durch Kosmetik, schöne Kleider und dergleichen möglichst attraktiv zu sein. Andere Mittel, die sowohl von Männern als auch von Frauen angewandt werden, sind angenehme Manieren, interessante Unterhaltung, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Gutmütigkeit. Viele dieser Mittel, sich liebenswert zu machen, sind die gleichen wie die, deren man sich bedient, um Erfolg zu haben, um „Freunde zu gewinnen“. Tatsächlich verstehen ja die meisten Menschen unseres Kulturkreises unter Liebenswürdigkeit eine Mischung aus Beliebtheit und Sex-Appeal. 
 
Hinter der Einstellung, dass man nichts lernen müsse, um lieben zu können, steckt zweitens die Annahme, es gehe bei dem Problem der Liebe um ein Objekt und nicht um eine Fähigkeit. Viele Menschen meinen, zu lieben sei ganz einfach, schwierig sei es dagegen, den richtigen Partner zu finden, den man selbst lieben könne und von dem man geliebt werde. Diese Einstellung hat mehrere Ursachen, die mit der Entwicklung unserer modernen Gesellschaft zusammenhängen. Eine Ursache ist die starke Veränderung, die im zwanzigsten Jahrhundert bezüglich der Wahl des „Liebesobjektes“ eingetreten ist. Im Viktorianischen Zeitalter war die Liebe – wie in vielen traditionellen Kulturen – kein spontanes persönliches Erlebnis, das hinterher vielleicht zu einer Heirat führte. Ganz im Gegenteil: Ein Heiratsvertrag wurde entweder zwischen den beiden Familien oder von einem Heiratsvermittler oder auch ohne eine derartige Vermittlung abgeschlossen; der Abschluss erfolgte aufgrund gesellschaftlicher Erwägungen unter der Annahme, dass sich die Liebe nach der Heirat schon einstellen werde. 

In engem Zusammenhang hiermit steht ein weiterer charakteristischer Zug unserer heutigen Kultur. Unsere gesamte Kultur gründet sich auf die Lust am Kaufen, auf die Idee des für beide Seiten günstigen Tauschgeschäfts. Schaufenster anzusehen und sich alles, was man sich leisten kann, gegen bares Geld oder auf Raten kaufen zu können – in diesem Nervenkitzel liegt das Glück des modernen Menschen. Er (oder sie) sieht sich die Mitmenschen auf ähnliche Weise an. Der Mann ist hinter einem attraktiven jungen Mädchen und die Frau ist hinter einem attraktiven Mann her. Dabei wird unter „attraktiv“ ein Bündel netter Eigenschaften verstanden, die gerade beliebt und auf dem Personalmarkt gefragt sind. Was einen Menschen speziell attraktiv macht, hängt von der jeweiligen Mode ab – und zwar sowohl in körperlicher wie auch in geistiger Hinsicht. So verlieben sich zwei Menschen ineinander, wenn sie das Gefühl haben, das beste Objekt gefunden zu haben, das für sie in Anbetracht des eigenen Tauschwerts auf dem Markt erschwinglich ist. Genau wie beim Erwerb eines Grundstücks spielen auch bei diesem Geschäft oft noch entwicklungsfähige, verborgene Möglichkeiten eine beträchtliche Rolle.  
 
In einer Kultur, in der die Marketing-Orientierung vorherrscht, in welcher der materielle Erfolg der höchste Wert ist, darf man sich kaum darüber wundern, dass sich auch die menschlichen (Liebes)Beziehungen nach den gleichen Tauschmethoden vollziehen, wie sie auf dem Waren- und Arbeitsmarkt herrschen. 

Der dritte Irrtum, der zu der Annahme führt, das Lieben müsste nicht gelernt werden, beruht darauf, dass man das Anfangserlebnis „sich zu verlieben“, mit dem permanenten Zustand „zu lieben“ verwechselt. Wenn zwei Menschen, die einander fremd waren – wie wir uns das ja alle sind –, plötzlich die trennende Wand zwischen sich zusammenbrechen lassen, wenn sie sich eng verbunden, wenn sie sich eins fühlen, so ist dieser Augenblick des Einsseins eine der freudigsten, erregendsten Erfahrungen im Leben. 


Liebe als Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz 
 
Der Mensch ist (im Gegensatz zum Tier) mit Vernunft ausgestattet; er ist Leben, das sich seiner selbst bewusst ist. Die Erfahrung des Abgetrenntseins von anderen erregt in ihm Angst, ja sie ist tatsächlich die Quelle aller Angst. Daher heisst abgetrennt sein für den Menschen hilflos sein, unfähig sein, die Welt – Dinge wie Menschen – mit eigenen Kräften zu erfassen; es heisst, dass die Welt über mich herfallen kann, ohne dass ich in der Lage bin, darauf zu reagieren. Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist demnach, seine Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner Einsamkeit herauszukommen. Ein absolutes Scheitern bei diesem Versuch führt zum Wahnsinn, weil das panische Entsetzen vor einer völligen Isolation nur dadurch zu überwinden ist, dass man sich völlig von der Aussenwelt zurückzieht, dass das Gefühl des Abgetrenntseins verschwindet, und zwar weil die Aussenwelt, von der man sich abgetrennt hat, verschwunden ist.  

Der Mensch sieht sich – zu allen Zeiten und in allen Kulturen – vor das Problem der Lösung der einen und immer gleichen Frage gestellt: wie er sein Abgetrenntsein überwinden, wie er zur Vereinigung gelangen, wie er sein eigenes einzelnes Leben nach aussen tragen („transzendieren“) und das Einswerden erreichen kann. Es ist immer die gleiche Frage, denn sie entspringt dem gleichen Boden, der menschlichen Situation, den Bedingungen der menschlichen Existenz. Die Antwort jedoch ist nicht immer die gleiche. Die Frage kann mit der Verehrung von Tieren, mit Menschenopfern oder militärischen Eroberungen, mit einem üppigen Lebenswandel, mit asketischem Verzicht, mit besessenem Arbeitseifer, mit künstlerischem Schaffen, mit der Liebe zu Gott und mit der Liebe zum Menschen beantwortet werden.

Eine Möglichkeit, das eigene Getrenntsein zu überwinden, sind orgiastische Zustände. Es scheint, dass der Mensch nach dem orgiastischen Erlebnis (Sex, Drogen, Alkohol) eine Zeit lang weiterleben kann, ohne allzusehr unter seinem Abgetrenntsein zu leiden.

Eine andere Möglichkeit, seine Isolation aufzuheben, ist für den Menschen die Konformität (Anpassung). Auch in unserer heutigen Gesellschaft des Westens ist die Gemeinschaft mit der Gruppe der am häufigsten eingeschlagene Weg, die Abgetrenntheit zu überwinden. Es ist eine Vereinigung, in der das individuelle Selbst weitgehend aufgeht und bei der man sich zum Ziel setzt, der Herde anzugehören. Wenn ich so bin wie alle anderen, wenn ich keine Gefühle oder Gedanken habe, die mich von ihnen unterscheiden, wenn ich mich der Gruppe in meinen Gewohnheiten, meiner Kleidung und meinen Ideen anpasse, dann bin ich gerettet – gerettet vor der angsterregenden Erfahrung des Alleinseins. (Diktatorische Systeme wenden Drohungen und Terror an, um diese Konformität zu erreichen, die demokratischen Staaten bedienen sich zu diesem Zweck der Suggestion und der Propaganda.)

Die meisten Menschen sind sich ihres Bedürfnisses nach Konformität nicht einmal bewusst. Sie leben in der Illusion, sie folgten nur ihren Ideen und Neigungen, sie seien Individualisten, sie seien aufgrund eigenen Denkens zu ihren Meinungen gelangt und es sei reiner Zufall, dass sie in ihren Ideen mit der Majorität (Mehrheit) übereinstimmen. Im Konsensus (Übereinstimmung) aller sehen sie den Beweis für die Richtigkeit „ihrer“ Ideen. Den kleinen Rest eines Bedürfnisses nach Individualität, der ihnen geblieben ist, befriedigen sie, indem sie sich in Kleinigkeiten von anderen zu unterscheiden suchen; die Anfangsbuchstaben ihres Namens auf dem Handkoffer oder dem Pullover, das Namensschildchen des Schalterbeamten oder die Zugehörigkeit zu verschiedenen Parteien oder Studentenverbindungen: Solche Dinge dienen dazu, individuelle Unterschiede zu betonen. In dem Werbeslogan, dass etwas „anders ist als…“, kommt dieses Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden, zum Ausdruck. In Wirklichkeit gibt es kaum noch Unterschiede. 
 

Männer und Frauen werden sich gleich und sind nicht mehr gleichberechtigt als entgegengesetzte Pole. Die heutige Gesellschaft predigt das Ideal einer nicht-individualisierten Gleichheit, weil sie menschliche Atome braucht, die sich untereinander völlig gleichen, damit sie im Massenbetrieb glatt und reibungslos funktionieren, damit alle den gleichen Anweisungen folgen und jeder trotzdem überzeugt ist, das zu tun, was er will.  Vereinigung durch Konformität vollzieht sich weder intensiv noch heftig; sie erfolgt ruhig, routinemässig und bringt es ebendeshalb oft nicht fertig, die Angst vor dem Abgetrenntsein zu mildern. Die Häufigkeit von Alkoholismus, Drogen, zwanghafter Sexualität und Selbstmord in der heutigen westlichen Gesellschaft ist ein Symptom für dieses relative Versagen der Herdenkonformität. Ausserdem betrifft auch diese Lösung hauptsächlich den Geist und nicht den Körper und ist auch deshalb im Vergleich zu den orgiastischen Lösungen im Nachteil. Die Herdenkonformität besitzt nur den einen Vorteil, dass sie permanent und nicht nur kurzfristig ist. Der Einzelne wird schon im Alter von drei oder vier Jahren in das Konformitätsmodell eingefügt und verliert dann niemals mehr den Kontakt mit der Herde. Selbst seine Beerdigung, die er als seine letzte grosse, gesellschaftliche Veranstaltung vorausplant, entspricht genau dem Modell. 

 

Aber nicht nur die Konformität dient dazu, die aus dem Abgetrenntsein entspringende Angst zu mildern, auch die Arbeits- und Vergnügungsroutine dient diesem Zweck. Der Mensch wird zu einer blossen Nummer, zu einem Bestandteil der Arbeiterschaft oder der Bürokratie aus Verwaltungsangestellten und Managern. Er besitzt nur wenig eigene Initiative, seine Aufgaben sind ihm durch die Organisation der Arbeit vorgeschrieben; es besteht in dieser Hinsicht sogar kaum ein Unterschied zwischen denen oben auf der Leiter und denen, die unten stehen. Sie alle erledigen Aufgaben, die ihnen durch die Gesamtstruktur der Organisation vorgeschrieben sind, im vorgeschriebenen Tempo und in der vorgeschriebenen Weise. Selbst die Gefühle sind vorgeschrieben: Man hat fröhlich, tolerant, zuverlässig und ehrgeizig zu sein und mit jedem reibungslos auszukommen. Auch das Vergnügen ist in ähnlicher, wenn auch nicht ganz so drastischer Weise zur Routine geworden. Die Bücher werden von den Buchclubs, die Filme von den Filmverleihern und Kinobesitzern mit Hilfe der von ihnen finanzierten Werbeslogans ausgewählt und lanciert. Auch alles andere verläuft in der gleichen Weise: die sonntägliche Ausfahrt im eigenen Wagen, das Fernsehen, das Kartenspielen und die Partys. Von der Geburt bis zum Tod, von einem Montag zum anderen, von morgens bis abends ist alles, was man tut, vorgefertigte Routine. 

Eine weitere Möglichkeit, zu neuer Einheit zu gelangen, liegt in schöpferischem Tätigsein, sei es das eines Künstlers oder das eines Handwerkers. Bei jeder Art von schöpferischer Arbeit vereinigt sich der schöpferische Mensch mit seinem Material, das für ihn die Welt ausserhalb seiner selbst repräsentiert. Ob ein Tischler einen Tisch oder ein Goldschmied ein Schmuckstück anfertigt, ob ein Bauer sein Kornfeld bestellt oder ein Maler ein Bild malt, bei jeder dieser schöpferischen Tätigkeiten wird der Schaffende eins mit seinem Werk, vereinigt sich der Mensch im Schaffensprozess mit der Welt. Dies gilt jedoch nur für die produktive Arbeit, für eine Arbeit also, bei der ich es bin, der plant, wirkt und bei der ich das Resultat meiner Arbeit sehe. Beim modernen Arbeitsprozess des Büroangestellten oder des Arbeiters am Fliessband ist von dieser einenden Qualität der Arbeit nur noch wenig übriggeblieben. Der Arbeiter ist zu einem Anhängsel der Maschine oder der Organisation geworden. Er hat aufgehört, er selbst zu sein – daher gibt es für ihn keine Einheit mehr, sondern nur noch Konformität.  
 

Die bei einer produktiven Arbeit erreichte Einheit ist nicht zwischenmenschlicher Art; die bei einer orgiastischen Vereinigung erreichte Einheit ist nur vorübergehend; die durch Konformität erreichte Einheit ist eine Pseudo-Einheit. Daher sind alle diese Lösungen nur Teillösungen für das Problem der Existenz. Eine voll befriedigende Antwort findet man nur in der zwischenmenschlichen Einheit, in der Vereinigung mit einem anderen Menschen, in der Liebe. 

Wir müssen uns darüber klarwerden, welche Art von Einheit wir meinen, wenn wir von Liebe sprechen. Beziehen wir uns auf jene Liebe, die ein reifer Mensch als Antwort auf das Existenzproblem gibt, oder sprechen wir von jenen unreifen Formen der Liebe, die man als symbiotische Vereinigung ohne Integrität bezeichnen kann? Die passive Form der symbiotischen Vereinigung ist die Unterwerfung – der Masochismus. Der masochistische Mensch entrinnt dem unerträglichen Gefühl der Isolation dadurch, dass er sich zu einem untrennbaren Bestandteil einer anderen Person macht, die ihn lenkt, leitet und beschützt; sie ist sozusagen sein Leben, sie ist die Luft, die er atmet. Die Macht dessen, dem man sich unterwirft, ist aufgebläht, sei es nun ein Mensch oder ein Gott. Er ist alles, ich bin nichts, ausser als ein Teil von ihm. Als ein Teil von ihm habe ich teil an seiner Grösse, seiner Macht und Sicherheit. Der masochistisch Orientierte braucht selber keine Entschlüsse zu fassen, er braucht kein Risiko einzugehen.

Die aktive Form der symbiotischen Vereinigung ist die Beherrschung eines anderen Menschen oder – psychologisch ausgedrückt und analog zum Masochismus – der Sadismus. Der sadistische Mensch möchte seiner Einsamkeit und seinem Gefühl, ein Gefangener zu sein, dadurch entrinnen, dass er einen anderen Menschen zu einem untrennbaren Bestandteil seiner selbst macht. Er bläht sich auf und vergrössert sich, indem er sich eine andere Person, die ihn verehrt, einverleibt. Der Sadist ist von dem, der sich ihm unterwirft, ebenso abhängig wie dieser von ihm; keiner von beiden kann ohne den anderen leben. Der Unterschied liegt nur darin, dass der Sadist den anderen kommandiert, ausnutzt, verletzt und demütigt, während der Masochist sich kommandieren, ausnutzen, verletzen und demütigen lässt.

Im Gegensatz zur symbiotischen Vereinigung ist die reife Liebe eine Vereinigung, bei der die eigene Integrität und Individualität bewahrt bleibt. Liebe ist eine aktive Kraft im Menschen. Sie ist eine Kraft, welche die Wände niederreisst, die den Menschen von seinem Mitmenschen trennen, eine Kraft, die ihn mit anderen vereinigt. Die Liebe lässt ihn das Gefühl der Isolation und Abgetrenntheit überwinden und erlaubt ihm, trotzdem er selbst zu sein und seine Integrität zu behalten. In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon (Widerspruch), dass zwei Wesen eins werden und trotzdem zwei bleiben. 



 

Wir brauchen wohl nicht besonders darauf hinzuweisen, dass die Fähigkeit zur Liebe – wird Liebe als ein Akt des Gebens verstanden – von der Charakterentwicklung des Betreffenden abhängt. Sie setzt voraus, dass er bereits zu einer vorherrschend produktiven Orientierung gelangt ist; bei einer solchen Orientierung hat der Betreffende seine Abhängigkeit, sein narzisstisches Allmachtsgefühl, den Wunsch, andere auszubeuten, oder den Wunsch zu horten überwunden; er glaubt an seine eigenen menschlichen Kräfte und hat den Mut, auf seine Kräfte zu vertrauen. In dem Mass, wie ihm diese Eigenschaften fehlen, hat er Angst, sich hinzugeben – Angst zu lieben. Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben, ihr „aktiver“ Charakter zeigt sich auch darin, dass sie in allen ihren Formen stets folgende Grundelemente enthält:



Fürsorge

Liebe ist die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben. Das Wesen der Liebe besteht darin, für etwas „zu arbeiten“ und „etwas aufzuziehen“. Liebe und Arbeit sind nicht voneinander zu trennen. Man liebt das, wofür man sich müht, und man müht sich für das, was man liebt. 
 
Verantwortungsgefühl

In seiner wahren Bedeutung ist Verantwortungsgefühl etwas völlig Freiwilliges; es ist meine Antwort auf die ausgesprochenen oder auch unausgesprochenen Bedürfnisse eines anderen menschlichen Wesens. Sich für jemanden „verantwortlich“ zu fühlen heisst, fähig und bereit sein zu „antworten“. Der liebende Mensch antwortet. Er fühlt sich für seine Mitmenschen genauso verantwortlich wie für sich selbst. Das Verantwortungsgefühl der Mutter für ihr Kind bezieht sich hauptsächlich auf ihre Fürsorge für dessen körperliche Bedürfnisse. Bei der Liebe zwischen Erwachsenen bezieht es sich hauptsächlich auf die seelischen Bedürfnisse des anderen. 
 
Achtung 

Achtung hat nichts mit Furcht und nichts mit Ehrfurcht zu tun: Sie bezeichnet die Fähigkeit, jemanden so zu sehen, wie er ist, und „seine einzigartige Individualität wahrzunehmen“. Achtung bezieht sich darauf, dass man ein „echtes Interesse“ daran hat, dass der andere wachsen und sich entfalten kann. Daher impliziert Achtung das Fehlen von Ausbeutung. Ich will, dass der andere um seiner selbst willen und auf seine eigene Weise wächst und sich entfaltet und nicht mir zuliebe. Wenn ich den anderen wirklich liebe, fühle ich mich eins mit ihm, aber so, wie er wirklich ist, und nicht, wie ich ihn als Objekt zu meinem Gebrauch benötige. Es ist klar, dass ich nur Achtung vor einem anderen haben kann, wenn ich selbst zur Unabhängigkeit gelangt bin, wenn ich ohne Krücken stehen und laufen kann und es daher nicht nötig habe, einen anderen auszubeuten. Achtung gibt es nur auf der Grundlage der Freiheit: L’amour est l’enfant de la liberté heisst es in einem alten französischen Lied. Die Liebe ist das Kind der Freiheit, niemals das der Beherrschung.  
 
Erkenntnis

Achtung vor einem anderen ist nicht möglich ohne ein wirkliches Kennen des anderen. Fürsorge und Verantwortungsgefühl für einen anderen wären blind, wenn sie nicht von Erkenntnis geleitet würden. Meine Erkenntnis wäre leer, wenn sie nicht von der Fürsorge für den anderen motiviert wäre. Es gibt viele Ebenen der Erkenntnis. Die Erkenntnis, die ein Aspekt der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt zum Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes Interesse transzendiere und den anderen so sehe, wie er wirklich ist. So kann ich zum Beispiel merken, dass jemand sich ärgert, selbst wenn er es nicht offen zeigt; aber ich kann ihn auch noch tiefer kennen, und dann weiss ich, dass er Angst hat und sich Sorgen macht, dass er sich einsam und schuldig fühlt. Dann weiss ich, dass sein Ärger nur die Manifestation von etwas ist, was tiefer liegt, und ich sehe in ihm dann den verängstigten und verwirrten, das heisst den leidenden und nicht den verärgerten Menschen.  

 

Wir kennen uns – und kennen uns doch auch wieder nicht, so sehr wir uns auch darum bemühen mögen, weil wir kein Ding sind und weil unser Mitmensch ebenfalls kein Ding ist. Je weiter wir in die Tiefe unseres eigenen Seins oder das eines anderen Menschen hinabreichen, umso mehr entzieht sich uns das, was wir erkennen möchten. Trotzdem können wir den Wunsch nicht unterdrücken, in das Geheimnis der Seele des Menschen, in den innersten Kern seines wahren Wesens einzudringen. Es gibt verzweifelte Möglichkeiten, dies zu erreichen: Mit Gewalt, Macht, Sadismus, Grausamkeit und Zerstörung. Grausamkeit aller Art ist durch etwas Tieferes motiviert, durch den Wunsch, hinter das Geheimnis aller Dinge und des Lebens zu kommen. Der andere Weg, „das Geheimnis“ zu erkennen, ist die Liebe. Liebe ist ein aktives Eindringen in den anderen, wobei das eigene Verlangen, ihn zu erkennen, durch die Vereinigung gestillt wird. Im Akt der Vereinigung erkenne ich dich, erkenne ich mich, erkenne ich alle die anderen, und ich „weiss“ doch nichts. Ich erkenne auf die einzige Weise, in welcher dem Menschen Erkenntnis des Lebendigen möglich ist: im Erleben von Einheit – und nicht aufgrund des Wissens, das mir mein Verstand vermittelt.  
 

Im Akt der Liebe, im Akt der Hingabe meiner selbst, im Akt des Eindringens in den anderen finde ich mich selbst, entdecke ich mich selbst, entdecke ich uns beide, entdecke ich den Menschen.  Ich muss den anderen und mich selbst objektiv kennen, um sehen zu können, wie er wirklich ist – oder besser gesagt, um die Illusionen, das irrational entstellte Bild zu überwinden, das ich mir von ihm mache. Nur wenn ich einen anderen Menschen objektiv sehe, kann ich ihn im Akt der Liebe in seinem innersten Wesen erkennen.  



  

OBJEKTE DER LIEBE 
 
Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person. Sie ist eine Haltung, eine CharakterOrientierung, welche die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem und nicht nur zu einem einzigen „Objekt“ der Liebe bestimmt. Wenn jemand nur eine einzige andere Person liebt und ihm alle übrigen Mitmenschen gleichgültig sind, dann handelt es sich bei seiner Liebe nicht um Liebe, sondern um eine symbiotische Bindung oder um einen erweiterten Egoismus – einem Egoismus zu zweit. Trotzdem glauben die meisten Menschen, Liebe komme erst durch ein Objekt zustande und nicht aufgrund einer Fähigkeit. Sie bilden sich tatsächlich ein, es sei ein Beweis für die Intensität ihrer Liebe, wenn sie ausser der „geliebten“ Person niemanden lieben. Es ist dies der gleiche Irrtum, den wir bereits an anderer Stelle erwähnt haben. Weil man nicht erkennt, dass die Liebe ein Tätigsein, eine Kraft der Seele ist, meint man, man brauche nur das richtige Objekt dafür zu finden und alles andere gehe dann von selbst. Man könnte diese Einstellung mit der eines Menschen vergleichen, der gern malen möchte und der, anstatt diese Kunst zu erlernen, behauptet, er brauche nur auf das richtige Objekt zu warten, und wenn er es gefunden habe, werde er wunderbar malen können. Wenn ich einen Menschen wahrhaft liebe, so liebe ich alle Menschen, so liebe ich die Welt, so liebe ich das Leben. Wenn ich zu einem anderen sagen kann: „Ich liebe Dich“, muss ich auch sagen können: „Ich liebe in Dir auch alle anderen, ich liebe durch Dich die ganze Welt, ich liebe in Dir auch mich selbst.“ 

 

Nächstenliebe 
 
Die fundamentale Art von Liebe, die allen anderen Formen zugrunde liegt, ist die Nächstenliebe. Damit meine ich ein Gespür für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und Erkenntnis, das jedem anderen Wesen gilt, sowie den Wunsch, dessen Leben zu fördern. Die Nächstenliebe gründet sich auf die Erfahrung, dass wir alle eins sind. Die Unterschiede von Begabung, Intelligenz und Wissen sind nebensächlich im Vergleich zur Identität des menschlichen Kerns, der uns allen gemeinsam ist. Um diese Identität zu erleben, muss man von der Oberfläche zum Kern vordringen. Wenn ich bei einem anderen Menschen hauptsächlich das Äussere sehe, dann nehme ich nur die Unterschiede wahr, das, was uns trennt; dringe ich aber bis zum Kern vor, so nehme ich unsere Identität wahr, ich merke dann, dass wir Brüder sind. Simone Weil drückt dies besonders schön aus, wenn sie bezüglich des Bekenntnisses „Ich liebe Dich“, das ein Mann zu seiner Frau spricht, bemerkt: „Die gleichen Worte können je nach der Art, wie sie gesprochen werden, nichtssagend sein oder etwas ganz Aussergewöhnliches bedeuten. Die Art, wie sie gesagt werden, hängt von der Tiefenschicht ab, aus der sie beim Betreffenden stammen und auf die der Wille keinen Einfluss hat. Durch eine ans Wunderbare grenzende Übereinstimmung erreichen sie in dem, der sie hört, genau die gleiche Tiefenschicht. So kann der Hörer erkennen, was die Worte wert sind, sofern er hierfür überhaupt ein Unterscheidungsvermögen besitzt.

 

Selbstliebe 
 
Ist Selbstsucht wirklich dasselbe wie Selbstliebe, oder ist die Selbstsucht nicht geradezu die Folge davon, dass es an Selbstliebe fehlt?  
 
Wenn es eine Tugend ist, meinen Nächsten als ein menschliches Wesen zu lieben, dann muss es doch auch eine Tugend – und kein Laster – sein, wenn ich mich selbst liebe, da ja auch ich ein menschliches Wesen bin. Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden. Liebe ist grundsätzlich unteilbar; man kann die Liebe zu anderen Menschen nicht von der Liebe zum eigenen Selbst trennen. Echte Liebe ist Ausdruck inneren Produktivseins und impliziert Fürsorge, Achtung, Verantwortungsgefühl und Erkenntnis. Sie ist kein Affekt in dem Sinn, dass ein anderer auf uns einwirkt, sondern sie ist ein tätiges Bestreben, das Wachstum und das Glück der geliebten Person zu fördern. Dieses Streben aber wurzelt in unserer eigenen Liebesfähigkeit – auch uns selbst gegenüber. Selbstsucht und Selbstliebe sind keineswegs identisch, sondern in Wirklichkeit Gegensätze. Es stimmt zwar, dass selbstsüchtige Menschen unfähig sind, andere zu lieben, aber sie sind auch nicht fähig, sich selbst zu lieben.  



 

DIE LIEBE UND IHR VERFALL IN DER HEUTIGEN WESTLICHEN GESELLSCHAFT 
 
Wenn Liebe eine Fähigkeit des reifen, produktiven Charakters ist, so folgt daraus, dass die Liebesfähigkeit eines in einer bestimmten Kultur lebenden Menschen von dem Einfluss abhängt, den diese Kultur auf den Charakter des Durchschnittsbürgers ausübt. Wenn wir jetzt von der Liebe in der westlichen Kultur sprechen, wollen wir uns daher zunächst fragen, ob die Gesellschaftsstruktur der westlichen Zivilisation und der aus ihr resultierende Geist der Entwicklung von Liebe förderlich ist. Wir müssen diese Frage verneinen. Kein objektiver Beobachter unseres westlichen Lebens kann bezweifeln, dass die Liebe – die Nächstenliebe, die Selbstliebe, die Mutterliebe und die erotische Liebe – bei uns eine relativ seltene Erscheinung ist und dass einige Formen der Pseudoliebe an ihre Stelle getreten sind, bei denen es sich in Wirklichkeit um ebenso viele Formen des Verfalls der Liebe handelt. 

Die moderne westliche Gesellschaft und somit der moderne Kapitalismus brauchen Menschen, die in grosser Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflusst werden kann. In unserer Gesellschaftsstruktur braucht es Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen – und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen; Menschen, die sich führen lassen, ohne dass man Gewalt anwenden müsste, die sich ohne Führer führen lassen und die kein eigentliches Ziel haben ausser dem, den Erwartungen zu entsprechen, in Bewegung zu bleiben, zu funktionieren und voranzukommen. 
 
Was kommt dabei heraus? Der moderne Mensch ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. Er hat sich in eine Gebrauchsware verwandelt und erlebt seine Lebenskräfte als Kapitalanlage, die ihm unter den jeweils gegebenen Marktbedingungen den grösstmöglichen Profit einzubringen hat. Die menschlichen Beziehungen sind im Wesentlichen die von entfremdeten Automaten. Jeder glaubt sich dann in Sicherheit, wenn er möglichst dicht bei der Herde bleibt und sich in seinem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln nicht von den anderen unterscheidet. Während aber jeder versucht, den übrigen so nahe wie möglich zu sein, bleibt er doch völlig allein und hat ein tiefes Gefühl der Unsicherheit, Angst und Schuld, wie es immer dann entsteht, wenn der Mensch sein Getrenntsein nicht zu überwinden vermag.  

 

Unsere Zivilisation verfügt über viele Betäubungsmittel, die den Leuten helfen, sich ihres Alleinseins nicht bewusst zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine der bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft, dass sich die Menschen ihres tiefsten Bedürfnisses, des Verlangens nach Transzendenz (Wahrnehmung von und nach aussen) und Einheit, bewusst werden. Da die Arbeitsroutine hierzu nicht ausreicht, überwindet der Mensch seine unbewusste Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens, durch den passiven Konsum von Tönen und Bildern, wie sie ihm die Vergnügungsindustrie bietet; ausserdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln.


 

Voraussetzungen zur Erlernung und Ausübung der Kunst des Liebens 
 
Disziplin

Ich werde es nie zu etwas bringen, wenn ich nicht diszipliniert vorgehe. Tue ich nur dann etwas, wenn ich gerade „in Stimmung“ bin, so kann das für mich ein nettes oder unterhaltsames Hobby sein, doch niemals werde ich in dieser Kunst ein Meister werden. Tatsächlich jedoch zeigt der moderne Mensch ausserhalb der Sphäre seiner Berufsarbeit nur äusserst wenig Selbstdisziplin.  
 
Wesentlich ist jedoch, dass man Disziplin nicht wie etwas übt, das einem von aussen aufgezwungen wird, sondern dass sie zum Ausdruck des eigenen Wollens wird, dass man sie als angenehm empfindet und dass man sich allmählich ein Verhalten angewöhnt, das man schliesslich vermissen würde, wenn man es wieder aufgeben sollte. Es gehört zu den bedauerlichen Aspekten unserer westlichen Auffassung von Disziplin (wie übrigens von jeder Tugend), dass man sie für recht mühsam hält und dass man meint, sie könne nur etwas „Gutes“ sein, wenn sie einem schwerfällt. Der Osten hat schon vor langer Zeit erkannt, dass das, was dem Menschen gut tut – seinem Körper und seiner Seele –, ihm auch angenehm sein muss, auch wenn zu Anfang einige Widerstände zu überwinden sind.   
 
Konzentration

Die Konzentration ist in unserer Kultur sogar noch seltener als die Selbstdisziplin. Dieser Mangel an Konzentration kommt auch darin deutlich zum Ausdruck, dass es uns schwerfällt, mit uns allein zu sein. Stillzusitzen, ohne zu reden, zu rauchen, zu lesen und zu trinken, ist den meisten Menschen unmöglich. Sie werden nervös und zappelig und müssen etwas tun – mit dem Mund oder den Händen. Paradoxerweise ist die Fähigkeit, allein sein zu können, die Vorbedingung für die Fähigkeit zu lieben. Jeder, der versucht, mit sich allein zu sein, wird entdecken, wie schwer das ist. Er wird eine innere Unruhe verspüren, wird zappelig werden und sogar Angst bekommen. Man muss es üben, mit sich zu sein und sich zu konzentrieren – es mit sich auszuhalten und gern mit sich allein zu sein.  
 
Neben solchen Übungen sollte man lernen, sich bei allem, was man tut, zu konzentrieren: wenn man Musik hört, ein Buch liest, einen bedeutenden (nicht seichten) Film sieht, sich mit jemand unterhält oder eine Aussicht bewundert. Nur das, was wir in diesem Augenblick tun, darf uns interessieren, und wir müssen uns ihm ganz hingeben. Wenn man sich so auf etwas konzentriert, spielt es kaum eine Rolle, was man tut. Dann nehmen alle Dinge, die wichtigen wie die unwichtigen, eine neue Dimension in der Wirklichkeit an, weil wir ihnen unsere volle Aufmerksamkeit schenken.  
 
Wenn man lernen will, sich zu konzentrieren, sollte man triviale Unterhaltungen, das heisst, solche, die nicht echt sind, möglichst meiden. Wenn zwei Menschen miteinander über das Wachstum eines Baumes, den sie beide kennen, oder über den Geschmack des Brotes, das sie gerade gegessen haben, oder über ein gemeinsames berufliches Erlebnis reden, so kann eine solche Unterhaltung durchaus relevant sein, vorausgesetzt, dass sie das, worüber sie reden, wirklich erlebt haben und sich nicht auf abstrakte Weise damit befassen; andererseits kann sich eine Unterhaltung um Politik oder um religiöse Fragen drehen und trotzdem trivial sein. Dies ist der Fall, wenn beide Gesprächspartner in Gemeinplätzen miteinander reden und bei dem, was sie sagen, mit dem Herzen nicht dabei sind. Hinzuzufügen wäre noch, dass man nicht nur keine trivialen Unterhaltungen führen, sondern dass man auch schlechte Gesellschaft möglichst meiden sollte.  

Auf andere konzentriert zu sein heisst vor allem, zuhören zu können. Die meisten hören sich an, was andere sagen, oder erteilen ihnen sogar Ratschläge, ohne ihnen wirklich zuzuhören. Sie nehmen das, was der andere sagt, nicht ernst, und genauso wenig ernst nehmen sie ihre eigenen Antworten. Die Folge ist, dass das Gespräch sie ermüdet. Sie bilden sich ein, es würde sie noch mehr ermüden, wenn sie konzentriert zuhörten, aber das Gegenteil trifft zu. Jede konzentriert ausgeführte Tätigkeit macht einen wach (wenn auch hinterher eine natürliche und wohltuende Müdigkeit einsetzt), während jede unkonzentrierte, halbherzige Tätigkeit schläfrig macht und andererseits zur Folge hat, dass man abends dann schlecht einschläft.  Konzentriert sein heisst ganz in der Gegenwart, im Hier und Jetzt leben und nicht, während man das eine tut, bereits an das nächste denken, das anschliessend zu tun ist. Es versteht sich von selbst, dass Konzentration vor allem von Menschen geübt werden muss, die sich lieben. Sie müssen lernen, einander nahe zu sein, ohne gleich irgendwie wieder voneinander wegzulaufen, wie das gewöhnlich geschieht. Zu Anfang wird es schwerfallen, sich in der Konzentration zu üben; man wird das Gefühl haben, es werde einem nie gelingen. Und hier kommen Disziplin und Geduld zum Zug.  

 

Geduld

Wenn man auf rasche Erfolge aus ist, lernt man eine Kunst nie. Aber für den modernen Menschen ist es ebenso schwer, Geduld zu haben, wie Disziplin und Konzentration aufzubringen. Unser gesamtes Industriesystem ist genau dem Gegenteil förderlich: der Geschwindigkeit. Der moderne Mensch meint, er würde etwas verlieren – nämlich Zeit –, wenn er nicht alles schnell erledigt; und dann weiss er nicht, was er mit der gewonnen Zeit anfangen soll – und er schlägt sie tot.  
 
Dass Geduld dazu nötig ist, um nur schon die Konzentration zu erlernen, braucht man kaum zu betonen. Wenn man nicht weiss, dass alles seine Zeit hat, und die Dinge erzwingen will, wird man freilich die Konzentration nie erlernen – auch nicht in der Kunst des Liebens. Wenn man sich eine Vorstellung davon machen will, was Geduld ist, braucht man nur ein Kind beim Laufenlernen zu beobachten. Es fällt hin und fällt immer und immer wieder hin und versucht es doch von neuem; es gelingt ihm immer besser, bis es eines Tages laufen kann, ohne hinzufallen. Was könnte der Erwachsene alles fertigbringen, wenn er bei Dingen, die ihm wichtig sind, die Geduld und Konzentration eines Kindes hätte!     

 

Wichtigkeit

Wenn die Kunst dem Lehrling nicht von grosser Wichtigkeit ist, wird er sie nie erlernen. Man lernt anfangs eine Kunst nicht direkt, sondern sozusagen auf indirekte Weise. Man muss oft zuerst eine grosse Anzahl anderer Dinge lernen, die scheinbar nur wenig damit zu tun haben, bevor man mit der eigentlichen Kunst anfängt. Wenn man in irgendeiner Kunst zur Meisterschaft gelangen will, muss man ihr sein ganzes Leben widmen oder es doch wenigstens darauf ausrichten. Unsere gesamte Persönlichkeit muss zu einem Instrument zur Ausübung der Kunst werden und muss je nach den speziellen Funktionen, die es zu erfüllen gilt, in Form gehalten werden.


Bezüglich der Kunst des Liebens bedeutet das, dass jeder, der ein Meister in dieser Kunst werden möchte, in jeder Phase seines Lebens Disziplin, Konzentration und Geduld praktisch üben muss.